Samstag, 16. Juli 2011

Wer macht so etwas ?

mein Besuch im Ulmer Münster
2011-07-16 131Keine Angst, nicht schon wieder ein quasi Skandälchen, von mir selbst entdeckt. Nein, die höchste Kirche der Welt, steht in Deutschland, in Ulm. Das Ulmer Münster. Und während die beiden Damen beim shoppen in der Stadt waren, war ich mal wieder im Münster. Erstaunt, schockiert hatte mich der Andrang. Im 5-Minuten Takt werden die Gruppen durch die Kirche geschleust. Die Leute und auch ich nehmen sich kaum die Zeit, die Dinge genauer zu betrachten, allenfalls wird das Handy, die Kamera gezückt, vielleicht schaut man sich die Bilder in einem späteren Leben mal an.

2011-07-16 0332011-07-16 029Ich betrachte mir die Kirche, ein schlechter Zeitpunkt dafür. In ein paar Stunden findet ein Konzert statt, hektisch wird aufgebaut, die Gruppen und Touristen lärmen. Kein sakraler, aber ein monumentaler Ort. Die hohen Decken, der dreischiffigen Kirche. Die Kirchenfenster auch modern, vor allem die auf der rechten Seite. Wenige Heiligenbilder sind aufgehängt, es fehlt der barocke Prunk, was mir auffällt sind die vielen Tafeln und Wappen der historischen
Gönner und Förderer. Heute hat nennt man es Bandenwerbung.
2011-07-16 0352011-07-16 034Es ist ein buntes Publikum, kurze karierte Hosen, asiatische Paare, junge Paare, Paare mit Kindern, die einen Hürdenlauf über die Kirchenbänke machen. Gesprächsfetzen der Führungen, “…gefühlte Minus Zehn Grad beim Gottesdienst”, “wenn Sie sich vorstellen….” seit mehreren Jahren dürfen Polen und Tschechen, auch reisen, schön, ein paar sind heute in Ulm angekommen, benehmen sich gesitteter als die anderen. Flip-Flops erzeugen dieses saugend schmatzende Geräusch, bin immer wieder verwundert, wie sich dieser Kunststoff weigert auf ein Tausendstel Millimeter gequetscht zu werden. “…können sie sich vorstellen, dass die Kirchengemeinde jährlich 4 Millionen zum erhalt des Münsters….” vermutlich kann man den Menschen dieses Objekt nur über Zahlen und Banalitäten vermitteln. Die Erklärerin hat einen Rückswärtssprecher Akzent, das Ulmer Schwäbisch ist es nicht, sie setzt ihre Gruppe “rücken Sie bitte auf, setzten sie sich hier, dass mich alle verstehen”, sie setzt ihre Gruppe vor dem Altar ab.Vorne rechts ist nochmal ein separater Raum, endlich kann sich das Mädchen dort ins Chorgestühl setzen, sie wollte die Kirche nicht besichtigen. Es wird ruhiger, eine aufgeschlagene Bibel, wirkt trotzdem nur wie eine “Schöner Wohnen” Deko.
2011-07-16 037Raus ins Hauptschiff, mich faszinieren die verschiedenartigen Kirchenfenster, die kräftige Sonne macht alles noch farbiger. Das Chorgestühl bitte nicht berühren steht da, noch immer gibt es Erklärungen. “wenn Sie sich die Schnitzereien darüber betrachten, sehen sie jetzt rechts, dass hier nur Frauen dargestellt…” Zwanzig Köpfe fahren herum und betrachten sich jetzt …nur Frauen dargestellt… Es wird heute noch ein Schwörkonzert geben, vermutlich ist übermorgen Ulms Stadtfeiertag, der Schwörmontag. Die Stagehands Roadies oder wie nennt man die Bühnenhelferlein bei klassischen Konzerten? Lärmen, bis 19.00 Uhr muss alles fertig sein, für die ist dass nur eine weitere Bühne, kein Gotteshaus.
2011-07-16 056Born under a bad Sign oder wie Scheiße das Leben sein kann steht in den Gesichtern der beiden Teenager geschrieben, die manifestierte Bocklosigkeit schlägt meine um Lichtjahre. Es ist kein Spass, Kinder von Gymnasiallehrern zu sein. Den Eltern ist’s egal sie referieren über das Bauwerk, der pickelige Junge kotzt, das Mädchen hat sich auf eine andere transzentendale Ebene Richtung H&M begeben. Ich schaue mir die bunten Fenster an, fotografiere wie wild, werde zuhause feststellen, dass das alles nichts war mit der Fotografiererei freue mich dann daran, dass ich sie lange genug betrachtet habe, für mich schöne Details entdeckt habe.

2011-07-16 0592011-07-16 047Die Ulanen trauern mit einer Gedenkplatte um ihre auch in anderen Einheiten versprengten Kameraden, die im Krieg Achtzehnhundert Zwetschgenneunzig gestorben sind. Irgendwelche Krieger um die Kameraden die für Kaiser und Vaterland ihr Leben gelassen haben. Ja, zum ehrenden Gedenken an die gefallenen und vermissten Kameraden 1939 – 1945, der Artl. Kommandeur 5, Artl. Regiment 41 … Bin ich in einer Garnison Kapelle gelandet ? Wieso dieses ehrende Gedenken an Soldaten an Mörder an Menschen die den vorzeitigen Tod anderer Menschen verursachen ? Ich komme in Rage, überall, jedes Regiment, jedes Bataillon hat eine Tafel in der Kirche, selbst die hier stationierten amerikanischen Truppen. Ich merke die Unruhe die Aggression aufsteigen werde… werde… werde sprachlos, muss aufpassen, rege mich auf.
Schön wäre wenn an Sophie und Hans Scholl und deren Freunde erinnert würde, haben sie doch viel eher den christlichen Gedanken propagiert. Ich bekomm schon wieder zu viel, merke wie ich mich rein steigere, bin schon versucht die Tafel mit “Alles Nazis” zu verzieren, weiß dass ich so oder so nichts ändere, bin frustriert, erschöpft.
2011-07-16 083Trete hinaus, in die Hektik des Münsterplatzes. Sicher ist Übermorgen Schwörmontag, Bühnen und Buden werden aufgebaut. Ulms flüssiges Gold ist reichlich vertreten. Drei Eingeborene sitzen auf einer Bank, sie lässt das Treiben kalt. Der Penner auf dem Mäuerchen gestikuliert wild mit seiner Bierflasche, einen höheren Alkoholgehalt verwendet Gunther von Hagens auch nicht, wenn er plastiniert. 1993 wurde das Stadthaus fertiggestellt. Überlege mir, ob der Bogen, der unter der Dachkante angebracht ist auch eine Funktion besitzt, komme zu dem Schluss, dass nicht alles eine Funktion besitzen muss, dass nicht alles funktionieren muss, dass es reicht einfach schön zu sein. Natürlich ist der Kirchturm im Hintergrund zu erkennen, so weit weg bin ich nicht. Meine Damen melden sich, sie brauchen noch eine 3/4 Stunde. Zurück, ich werde den Turm besteigen, weiß vom letzten Mal, dass das nicht so mein Ding ist, will aber nochmal die Stadt von oben, den Turm von innen sehen.
Der Kassierer mit seinem selbstgestochenen Jugendknast Herz auf dem Unterarm ist beschäftigt, im Kassenraum muss nochmals eine Person sein, mit der er sich rege unterhält. Kunden stören da nur. Es ist ein bisschen zäh. Den beiden Alten vor mir zeigt er zwar die 12 Euro Rausgeld, lässt sie aber schwätzender weise 2 Minuten zappeln, bis er es aushändigt. Egal. Ich überhol die beiden noch auf dem Weg zum Turmaufstieg. Es wird wie so oft (immer ?) am Turm, am Münster gebaut. Schon nach wenigen Stufen kommen mir Leute entgegen. Vor 15 Jahren war das meine ich anders geregelt.
Auf Höhe des Hauteingangs, des Hauptportals trennen sich dann aber die “Aufsteiger” und “Absteiger”  Der Steg ist eng, werde nachher runter schauen, schraube mich langsam weiter hoch. Hundertfünfzig Stufen später dreht sich bei mir Alles, der Puls ist bei geschätzten 385, die Atmung geht heftig, es schmerzt. Ich laufe auf eine Frau auf, sie will mich vorbei lassen, atemlos lehne ich ab, ich kann nicht mehr, Sie startet einen neuen Ausbruch Versuch. Ich pumpe wie ein Maikäfer. Weiter !
2011-07-16 093Was passiert, wenn ich jetzt einen Herzinfarkt erleide ? Wie kommen die Retter in den engen Turm ? Was, wenn die fette Qualle die ich vor 10 Minuten den Aufstieg beginnen sah, wenn die stolpert und mich als menschliche, unmenschliche Fettlawine den Treppen Turm runterspült. Werde ich wenigstens anhand der DNS identifiziert werden können, das Zahnschema dürfte  pulverisiert sein.
Der Schweiß rinnt strömt, der Luftzug hat leichtes Spiel, ich weiß jetzt schon, dass ich morgen steife Gelenke, ein steifes Genick und (- nein, da hab ich ja nicht geschwitzt -) eine Erkältung haben werde. Von unten kommt jemand Schnelleres, es ist leicht schneller als ich zu sein. Klar, zwar rauche ich jetzt seit 2 Jahren nicht mehr, habe aber auch 18 kg mehr auf den Rippen, beziehungsweise etwas darunter, auf dem Bauch und den Hüften. Tue so als ob ich fotografiere, lasse das Turboaufsteiger Paar vorbei ! Frust, die sind bestimmt zwanzig bis dreißig Jahre älter als ich.
2011-07-16 085Wie viele Flüche haben die Arbeiter damals wohl ausgesprochen, als die die Treppen hoch gelaufen sind. Mit Werkzeug, mit Material in den Händen, und wenn es nur das Vesper und was zum Trinken war. Klar konnte man Steine auch mit Seilwinden, Flaschenzügen in die Höhe bringen, die Arbeit aber blieb. Ich schau aus den Schießscharten, sehe die Verzierungen.
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Nicht dass es mich stören würde und ich hab es ja auch gesehen, nein es begeistert mich, wie die noch in dieser Höhe der Kirche das Ding noch verziert haben, vom Boden aus ist da doch gar nichts mehr zu erkennen.
”Wer macht so etwas ?”
Nicht die Turmbesteigung. Nein, Ich bewundere die Menschen die Dies schufen.
Den Turm ohne Sherpa, ohne Sauerstoffgerät zu besteigen erscheint mir immer vermessener. Irgendwo, irgendwann muss doch das Basislager erreicht sein, ich möchte biwakieren, Kohlehydrate zu mir nehmen. Ich meine mich erinnern zu können, dass man
Teile des Glockenhause (nennt man das so ?) anschauen kann. Leider sind die Türen verschlossen. So muss ich weiter, unbarmherzig, Stufe um Stufe, Umdrehung um Umdrehung. Mandy und Maik verstopfen den Weg, Mandy hat sich an Maik geschmiegt, der unbeeindruckt mit seinem Handy aus den Schießscharten artigen Öffnungen fotografiert. So hat sie sich ihren ersten Westurlaub sicher nicht vorgestellt. Sie will mich vorbei lassen, im besten Hochschwäbisch mache ich ihr klar, dass auch ich noch  "v e r s c h n a u f e n"   muss.
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Und immer mehr die Frage:
”Wer macht so etwas ?”
Nicht die Turmbesteigung. Nein, Wer verziert die Kirche in mehr als hundert Meter über dem Boden die Türmchen mit Ornamenten, die Absätze mit Figuren ? Wie mühsam muss es gewesen sein, die dort zu befestigen, da hin zu transportieren ? Wozu der ganze Aufwand ?
Geschafft, ein Etappenziel ist erreicht. Das letzte Biwak vor dem Gipfelsturm. Die spanische Seilschaft, die vor mir den Platz erreicht hat scheint auszudiskutieren, wer zur Gipfelmannschaft gehören soll. Die anderen genießen den Ausblick auf die (Achtung: Klischee !) Donaustadt und Umgebung. Sowieso scheint diese Plattform vor dem letzten Aufstieg in die Turmspitze nochmal zum Ausruhen, zum Chillen wie die jungen Leute sagen würden, einzuladen. Im Kreis rum die Umgebung betrachten, sichtbarer Überrest der Bundesfestung Ulm beim Eselsberg, den Blick ins bayrische Richtung Augsburg. Der Blick in die Stadt unter uns. Hohe alte Dächer von stattlichen Gebäuden, die auch den Reichtum der ehemaligen Reichsstadt demonstrieren, kein komplettes Ensemble, wurden doch auch große Teile der Stadt im II.Weltkrieg zerstört, manche Gebäude auch wieder in ihrer äußeren Form aufgebaut. Dazwischen neue, wirklich moderne futuristische Gebäude die jetzt das Bild der Innenstadt mitprägen.
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Wieso nicht hier leben ?
Am Fuß des Aufstiegs zur Kirchturmspitze ruhen 3 Personen aus. Sie berichten von langen Wartezeiten, da oben der Platz doch sehr begrenzt ist, wäre die Warterei nicht… Ich blicke hinauf, erkenne in den Öffnungen Menschen, es geht tatsächlich minutenlang nicht vorwärts. Bin hin- und hergerissen, nicht ganz oben gewesen zu sein, versus klaustrophobische Gefühle in dem engen Turm zu entwickeln, festzustecken. Nein, hoch zu gehen wäre nur Selbstzweck, Rekordsucht. Nach drei Runden auf dieser Plattform entscheide ich mich für den Abstieg. Nicht ohne nochmals zu denken:
Wer macht so etwas ?
Wer verziert in über 120 Meter Höhe Fenster, Türme Stufen, im Wissen, dass es von Niemanden gesehen wird. Im Wissen, dass nur ein paar Leute von diesem Aufwand wissen. Reichte es den Schöpfern zu wissen, dass sie den Turm die Kirche verziert haben und dass es so ist wie es ist ?
Andererseits ? Wieso blogge ich ? Wieso mache ich mir die Mühe, wenn es fast genauso wenig beachtet wird ? Vermutlich ist es die Suche nach Anerkennung, nach einer Belohnung in einem eventuell auch späteren Leben, nach der zweiten oder dritten Reinkarnation, das sammeln von Karmapunkten ?
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Zweifellos auf jeden Fall, dass sich die Menschen auch bei der Turmspitze verausgabt haben. Natürlich, hatte man bessere technische Mittel 189X bei der Fertigstellung des Turm, als bei seinem Entwurf 137?
Nichts desto trotz auch da wieder alles fein gearbeitet, verziert. Hier wirkt es durch die offene Bauweise doch leicht und luftig. Ob es die Statik erforderte ? Und natürlich musste man noch ein paar Meter drauf geben, um den Kölner Dom um ein paar Meter zu überbieten. Hat man doch jetzt mit 161 Metern den höchsten Kirchturm der Welt.

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